Mittwoch, August 30, 2006

Ohne Kommentar

Mein lieber Uri,

schon drei Tage lang beginnen fast alle meine Gedanken mit Nein. Nein, er wird nicht kommen, wir werden nicht reden, werden nicht lachen. Nein, er wird nicht mehr da sein, dieser Junge mit dem ironischen Blick und dem irren Humor, dieser weit über seine Jahre gereifte junge Mann. Nein, es wird sie nicht mehr geben, dieses warme Lächeln und den herzhaften Appetit, diese seltene Verbindung von Entschlossenheit und Feingefühl, von gesundem Menschenverstand und Herzensweisheit. Nein, sie sind nicht mehr, Uris unendliche Zärtlichkeit und die Ruhe, mit der er jeden Sturm ausglich. Und nein, wir werden nicht mehr gemeinsam die Simpsons und Seinfeld gucken, nicht mehr Johnny Cash mit dir hören, nicht mehr deine feste, Halt gebende Umarmung spüren. Und nein, wir werden dich nicht mehr lebhaft gestikulierend mit Jonathan gehen und reden oder deine heiß geliebte Schwester Ruthi umarmen sehen.

Mein geliebter Uri, dein ganzes kurzes Leben lang haben wir alle von dir gelernt. Von deiner Kraft und Entschlossenheit, deinen eigenen Weg zu gehen. Ihn auch dann zu beschreiten, wenn er aussichtslos aussah. Wir verfolgten staunend dein Ringen um die Aufnahme in den Panzerkommandeurslehrgang. Wie du deinen Vorgesetzten nicht nachgabst, weil du wusstest, dass du ein guter Befehlshaber sein konntest, und nicht bereit warst, weniger zu geben, als in deinen Kräften stand. Und als du es geschafft hattest, dachte ich: Hier ist ein Mensch, der schlicht und nüchtern seine Fähigkeiten kennt. Der keine Anmaßung und keine Überheblichkeit in sich stecken hat. Der sich nicht darum schert, was die Leute sagen. Der in sich ruht.

Du warst der Linke in deinem Bataillon, und man achtete dich, denn du vertratst deine Meinungen, ohne deine militärischen Aufgaben im Geringsten zu vernachlässigen. Ich weiß noch, wie du mir von deiner »Kontrollpostenpolitik« erzähltest, denn auch du hast ja häufig an den Kontrollposten gestanden. Du sagtest, wenn in dem Wagen, den du stoppst, ein Kind sitzt, versuchst du immer erst, es zu beruhigen und zum Lachen zu bringen. Und du denkst immer daran, dass dieses Kind ungefähr in Ruthis Alter ist. Und stellst dir immer vor, welche Angst es vor dir hat. Und wie es dich hasst und dass es Gründe dafür hat. Und dass du trotzdem alles tust, um ihm diesen schrecklichen Augenblick so weit wie möglich zu erleichtern – dabei aber auch deine Aufgabe ohne alle Abstriche erfüllst.

Als du in den Libanon ausrücktest, sagte Mutter, am meisten fürchte sie dein »Elifelet-Syndrom«. Das heißt, wir fürchteten sehr, wenn es einen Verwundeten zu bergen gälte, würdest du – gleich dem Elifelet im Lied (dem vertonten gleichnamigen Gedicht von Nathan Alterman über einen Soldaten im israelischen Unabhängigkeitskrieg, Anm. d. Red.) – geradewegs ins Feuer rennen, und du wärst der Erste, der sich meldete, um Nachschub an längst ausgegangener Munition zu holen. Und wie du dein Leben lang warst, zu Hause und in der Schule und beim Wehrdienst, und wie du immer bereitwillig auf Urlaub verzichtet hast, weil ein anderer Soldat ihn dringender brauchte oder weil die Lage bei ihm daheim schwieriger war – genauso würdest du auch dort, im Libanon, handeln, mitten im harten Krieg.

Du warst mir Sohn und Freund. Und das warst du auch für Mutter. Wir sind seelenverwandt. Du warst eins mit dir, ein Mensch, mit dem man gern zusammen ist. Jedes Mal, wenn du auf Urlaub kamst, sagtest du: Vater, lass uns reden. Und dann gingen wir gemeinsam weg, meist in ein Lokal, und setzten uns hin und redeten. Ich weiß noch, wie du einmal mit mir überlegt hast, ob du einen deiner Soldaten, der irgendein Dienstvergehen begangen hatte, bestrafen solltest. Wie hast du dich mit dieser Entscheidung gequält, in dem Wissen, dass du dir den Zorn deiner Soldaten zuziehen würdest, und auch den Zorn anderer Befehlshaber, die gewisse Regelverstöße nachsichtiger behandelten. Und tatsächlich hast du gesellschaftlich einen hohen Preis bezahlt für deine Entscheidung, den Soldaten zu bestrafen, aber gerade dieser Vorfall wurde später zu einer der Leitgeschichten des ganzen Bataillons und setzte einen Maßstab für anständiges Verhalten und Achtung der Gesetze. Und bei deinem letzten Urlaub erzähltest du mir in deinem schüchternsten Stolz, wie der Bataillonschef, im Gespräch mit neuen Befehlshabern der Einheit, deine klare Entscheidung als Musterbeispiel für das richtige Verhalten eines Vorgesetzten angeführt hatte.

Ich werde zu diesem Zeitpunkt nichts über den Krieg sagen, in dem du ums Leben gekommen bist. Wir, unsere Familie, haben diesen Krieg schon verloren. Der Staat Israel wird nun seine eigene Bilanz halten. Wir ziehen uns in unseren Schmerz zurück, umgeben von unseren guten Freunden, eingehüllt in eine mächtige Liebe, die wir heute von so vielen Menschen erfahren, die wir zum großen Teil gar nicht kennen, und ich danke ihnen allen für ihre grenzenlose Unterstützung.

Möge uns die Fähigkeit gegeben sein, diese Liebe und Solidarität einander auch in anderen Zeiten zu schenken. Das ist vielleicht unsere ureigenste nationale Ressource. Das ist unser großer menschlicher Naturschatz. Möge es uns gelingen, etwas sanfter miteinander umzugehen. Mögen wir es fertig bringen, uns jetzt, wahrlich in letzter Minute, zu retten, denn es stehen uns noch sehr schwere Zeiten bevor.

Ich möchte noch ein paar Worte sagen.

Uri war ein sehr israelisches Kind. Sogar sein Name ist so israelisch und so hebräisch. Er war die Quintessenz des Israeliseins, wie ich es gern sehen würde. Das beinah vergessen ist. Das manchmal fast als Kuriosum gilt. Oft habe ich ihn mir angeschaut und gedacht, er ist eigentlich ein etwas anachronistisches Kind. Er und auch Jonathan und auch Ruthi. Solche Fünfziger-Jahre-Kinder. Uri mit seiner absoluten Redlichkeit und seinem Verantwortungsbewusstsein für alles, was um ihn her vorging. Uri, der immer zur Stelle war. Auf den man sich in allem verlassen konnte. Uri mit seiner tiefen Empfindsamkeit für alles Leid, alles Unrecht. Und mit seiner Barmherzigkeit. Ein Wort, bei dem ich – wann immer ich es dachte – an ihn dachte.

Und er war ein idealistischer Mensch. Dieses Wort ist in den letzten Jahren abgewertet, sogar lächerlich gemacht worden. In unserer zerrissenen und grausamen und zynischen Welt ist es nicht »cool«, idealistisch zu sein. Oder ein Humanist. Oder wirklich sensibel zu sein für die Not des Anderen, auch wenn der Andere ein Feind auf dem Schlachtfeld ist.

Aber ich habe von Uri gelernt, dass man das eine wie das andere kann und muss. Wir müssen tatsächlich »für unser Leben eintreten«, aber in der zweifachen Bedeutung des hebräischen Wortes – für Leben und Seele eintreten: Wir müssen unser Leben verteidigen, aber auch unsere lebendige Seele bewahren, sie hartnäckig gegen die Verlockungen der Macht und des einseitigen Denkens schützen, gegen den schädlichen Einfluss des Zynismus. Gegen die Grobheit des Herzens und die Geringschätzung des Menschen, denn diese sind der wahre Fluch derer, die ihr ganzes Leben in einer Katastrophenregion wie unserer hier verbringen.

Uri hatte einfach den Mut, er selbst zu sein, immer in jeder Lage und bei allem, was er sagte und tat, genau den richtigen Ton zu finden, und das hat ihn gegen Ansteckung und Verfall und seelische Verarmung gefeit.

Liebe Freunde, in der Nacht von Samstag auf Sonntag, um zwanzig vor drei, klingelte es an unserer Haustür. An der Sprechanlage sagten sie: »Wir kommen vom Standortältesten«, und ich ging aufmachen und dachte mir: Das war’s, das Leben ist zu Ende.

Aber als Michal und ich fünf Stunden später in Ruthis Zimmer gingen und sie weckten, um ihr die schlimme Nachricht mitzuteilen, sagte Ruthi, nach dem ersten Tränenausbruch: Aber wir werden doch leben, nicht wahr? Wir werden leben wie früher, und ich möchte weiter im Chor singen, und dass wir lachen wie immer, und ich möchte Gitarre spielen lernen. Und wir umarmten sie und sagten, dass wir leben würden.

Unser Leben ist nicht zu Ende. Wir haben nur einen sehr schweren Schlag abbekommen. Die Kraft, ihn durchzustehen, schöpfen wir aus uns selbst, aus unserem Zusammenhalt, dem von Michal und mir und unseren Kindern und auch von Großvater und den Großmüttern, die ihn von ganzem Herzen geliebt haben – Neschúmme nannten sie ihn, denn er war durch und durch neschamá, eine Seele.

Und unsere Kraft schöpfen wir auch aus Uri. Er hatte Stärken, die uns viele Jahre hindurch reichen werden. Er strahlte so stark vor Leben, vor Vitalität, vor Wärme und Liebe, und dieses helle Licht wird uns weiter scheinen, auch wenn der Stern, der es ausstrahlte, schon erloschen ist.

Unser Liebster, wir schätzen uns glücklich, dass wir mit dir leben durften. Danke für jeden Augenblick, in dem du unser gewesen bist.

Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama

Uri Grossmann, fiel am 12. August, zwei Tage vor dem Beginn der Waffenruhe, im Libanon-Krieg. Der 20-Jährige leistete seinen Wehrdienst. »Uri war ein sehr israelisches Kind«, sagte sein Vater, der Schriftsteller David Grossmann, in seiner Trauerrede